Kollegiale FührungSelbstorganisiation

Kollegiale Führung und Selbstorganisation – wie wir von unseren Kund:innen lernen

Als Hybrid aus Beratungsorganisation und Netzwerk hat sich Como Consult über die letzten 30 Jahre mit einem ganz eigenen Organisationsmodell entwickelt. Unsere Büros funktionieren mit vier Angestellten und einem Geschäftsführer rein formal gesehen eher hierarchisch, sind jedoch praktisch durch einen hohen Grad von Selbstorganisation geprägt. Darüber hinaus gibt es das System der Gesellschafter:innen und ein Netzwerk von 16 freiberuflich tätigen Berater:innen, die sich über die Marke Como für gemeinsame Aufträge miteinander verbinden. Die meisten Berater:innen sind auch Gesellschafter:innen. Über viele Jahre funktionierten die beiden letztgenannten Systeme evolutionär „selbstorganisiert“, ohne dass es ein Organisieren der Selbstorganisation brauchte. Wenn es zu bestimmten Fragen unterschiedliche Meinungen gab, setzte man sich (in recht kleiner Runde) zusammen, schaute sich kurz tief in die Augen und war sich schnell einig, wie es weitergehen könnte. Dies lief vor allem deshalb ohne größere Schwierigkeiten lange gut, weil die Anzahl der jeweiligen Mitglieder des Gesellschafter:innenkreises und des Berater:innennetzwerks recht überschaubar war. Mit dem ersten großen Wachstum von Como Consult im Jahr 2015 stießen wir mit den bisherigen Modellen jedoch an unsere Grenzen: strategische und operative Entscheidungsprozesse verlangsamten sich, das Hineinfinden wurde für neue Berater:innen schwieriger und unterschiedliche Positionen waren schwerer zu vereinbaren.

Im Jahr 2018 begannen einige von uns, sich intensiver mit Agiler Organisationsentwicklung zu beschäftigen und ließen sich in „Kollegialer Führung“ (Bernd Oestereich und Claudia Schröder) ausbilden. Dort fanden wir sofort erste Instrumente, die Zusammenarbeit in unseren beiden nicht-hierarchisch organisierten Subsystemen zu optimieren. Kurze Zeit später erhielt ich ein Beratungsmandat des Referats für Personal- und Organisationsentwicklung (POE) der TU Darmstadt zur Begleitung der Einführung der Kollegialen Führung im Referat. Schnell entdeckte ich einige Gemeinsamkeiten zwischen der Situation des Referats und uns bei Como: (a) wir wollten (zwar mit unterschiedlichen Motiven) im Team zusammenarbeiten, dabei ohne hierarchische Führung auskommen und brauchten dazu die passenden Formen und Prozesse; (b) wir könnten als Modell für unsere Kund:innen (die POE als interne Dienstleisterin der TU Darmstadt) im Sinne von „walk the talk“ wichtige Erfahrungen am eigenen Leib sammeln und diese in unserer Beratungsarbeit nutzen.

Das Beratungsmandat der POE soll hier nur beispielhaft für viele weitere Aufträge stehen, aus denen wir immer selbst viel mitnehmen für unsere eigene Weiterentwicklung und die Beratung unserer Kund:innen. Zu den wichtigen Lernerfahrungen gehört hier auf jeden Fall, wieviel Disziplin, Mut und Demut es immer wieder braucht, die gewohnten Pfade zu verlassen und neue Wege zu erkunden. So lassen sich ggfs. einige Parallelen ziehen zwischen dem herausfordernden Rollenwechsel der POE-Referatsleiterin (siehe Auszug Artikel unten) und Comos Übergang von der „ersten“ in die „zweite Generation“ der Gesellschafter:innen. In beiden Fällen ist die Klärung und Verortung von impliziten und expliziten Entscheidungsautonomien (Führungsaufgaben) relevant. Eine weitere spannende Parallele ist der Wunsch nach gut ausbalanciertem Einsatz (individueller Beitrag zum Gesamten) von Mitarbeitenden der POE bzw. von Gesellschafter:innen / Netzwerkmitgliedern bei Como Consult. In beiden Fällen gibt es keine Führungskraft die auf einen Ausgleich achtet und diesen organisiert. In beiden Fällen wird daran gearbeitet, wie dieser Ausgleich unter geteilter Verantwortung organisiert werden kann. Und letztendlich wurde in beiden Kontexten mit einer Vielzahl von Instrumenten experimentiert. Auch dazu sind einige Erfahrungen der POE in unser Erproben von mehr organisierter Selbstorganisation eingeflossen, v.a. bei der Anwendung soziokratischer Entscheidungsinstrumente.

Im Folgenden möchte ich auszugsweise einige Erfahrungen aus meinem Beratungsmandat der POE der TU Darmstadt teilen. Es handelt sich dabei um einen Auszug des Artikels „Hierarchie ade? Kollegiale Führung in der Hochschulverwaltung“, den ich zusammen mit Dr. Caprice Weißenrieder (ehemalige POE-Referentin TU Darmstadt) in der Fachzeitschrift „Personal in Hochschule und Wissenschaft entwickeln“ (Ausgabe 02|2022) im April 2022 veröffentlicht habe.

Auszug:

2. Ausgangslage: Die POE macht sich fit für agile Organisationsberatung

Seit einiger Zeit vermerkt die POE eine steigende Nachfrage an Beratung zu agilen Fragestellungen. Vor allem geht es darum, Lösungen zum besseren Umgang mit der zunehmenden Komplexität und Unvorhersehbarkeit des Arbeitsalltags zu entwickeln.

Als erste Ansprechpartnerin für Personal- und Organisationsentwicklung kommt der POE eine besondere Rolle zu. Sie sieht sich als Erkundungs- und Resonanzraum für die Erprobung und Nutzung neuer Methoden und Arbeitsweisen der Zusammenarbeit. Um dieser Rolle gerecht zu werden, hat sich das Team der POE gemeinsam dazu entschlossen, im Rahmen eines Experiments, also des probeweisen Erkundens, die Zusammenarbeit mit dem Ansatz der Kollegialen Führung zu erproben.

3. Kollegiale Führung: eine kurze Einführung

Oestereich und Schröder (2019, S. 8) beschreiben die Kollegiale Führung als eine “… auf viele Kollegen und Kolleginnen dynamisch und dezentral verteilte Führungsarbeit anstelle von zentralisierter Führung durch einige exklusive Führungskräfte.” Dabei ist zu betonen, dass es sich nicht um ein starres vordefiniertes Modell handelt, sondern eine Haltung (der agilen Organisationsentwicklung) umfasst, welche durch Werkzeuge, Praktiken, Methoden, Strukturen, Prozesse und Prinzipien im Alltag kollegial umgesetzt, reflektiert und gelebt wird. Diese Übersetzung in den Arbeitsalltag erfolgt nicht nach einem statischen Muster, sondern wird je nach den Bedürfnissen des Teams bzw. der Organisationseinheit stetig angepasst.

In der Agilen Organisationsentwicklung “… werden keine Veränderungsziele festgelegt, sondern angestrebte Werte und Prinzipien geklärt. Dann werden (eine oder mehrere voneinander weitgehend unabhängige) Veränderungen einfach testweise ausprobiert. Ausprobieren heißt hier, dass die Entscheidung umkehrbar und (zeitlich, räumlich, organisatorisch) begrenzt ist. Es ist ein Experiment und Scheitern ist möglich. Anschließend wird beobachtet, werden Thesen aufgestellt und es bewertet, welche Veränderungen bewirkt wurden und welcher Nutzen darin gesehen wird. Erst dann wird auf dieser Basis entschieden, ob die erprobten Veränderungen beibehalten weiter ausgebaut oder verworfen werden sollen” (Oestereich und Schröder 2017, S. 31).

Wenn im Rahmen der agilen Organisationsentwicklung der Ansatz der Kollegialen Führung in einer Organisation eingeführt wird, geschieht dies am besten, indem die gewünschten Veränderungen so früh wie möglich für die Mitarbeitenden erlebbar gemacht werden. In einer Experimentierphase wird in kurzen iterativen Zyklen die Umsetzung bestimmter Haltungen, Werkzeuge oder Abläufe erprobt und dadurch die gewünschten Unterschiede direkt erfahrbar gemacht. Im Rahmen regelmäßig stattfindender Reflexions- und Dialogformate tauschen sich die Mitarbeitenden über ihre Erfahrungen aus und passen das Erprobte weiter an das Erwünschte an. Dieses reflexive Vorgehen ist eine Grundvoraussetzung für eine agile (Führungs-)Kultur.

Die Einführung der Kollegialen Führung bedeutet einen schrittweisen Wechsel vom Prinzip der einzelnen Führungskraft hin zum Prinzip der geteilten Führungsarbeit. Führungsaufgaben werden nicht mehr nur von einer hierarchischen Führungskraft, sondern vom gesamten Team übernommen.

5. Fazit

Über einen Zeitraum von anderthalb Jahren hat der Co-Autor in der Rolle des externen agilen Coaches das Team der POE der TU Darmstadt bei der Einführung der Kollegialen Führung im Referat begleitet. Damals bestand das Team aus sieben Teammitgliedern: eine Referatsleitung, vier Referent*innen POE, eine Koordinatorin der Internen Weiterbildung und eine Assistentin.

Zurückblickend auf gut anderthalb Jahre der Kollegialen Führung im Team der POE kann eines definitiv festgehalten werden: diese Form der Zusammenarbeit ist kein Selbstläufer. Sie bedarf einer kontinuierlichen Adaption und regelmäßiges Ausbalancieren von Spannungen. Dies wurde umso deutlicher, als die Teammitglieder im Rahmen der Erstellung dieses Artikels u.a. nach den größten Herausforderungen befragt wurden. Eine der am häufigsten genannten Herausforderungen im Zuge der Umstellung auf die Kollegiale Führung war die zusätzlich aufkommende Zeit- und Ressourcenbindung neben dem laufenden Tagesgeschäft. Insbesondere das Erproben der Rollen und der Einsatz verschiedener Entscheidungswerkzeuge hat zu Beginn viel Zeit in Anspruch genommen. Damit verknüpft benötigt auch das Erarbeiten neuer Prozesse, Strukturen und Kommunikationswege zusätzliche Ressourcen. Darüber hinaus erforderte es ein Überdenken bewährter Vorgehensweisen und Muster. Dies zeigte sich insbesondere hinsichtlich neuer Entscheidungsstrukturen und der Frage, ab wann das gesamte Team in Entscheidungen eingebunden wird und in welchem Fall jede Person für sich selbst entscheiden kann. Als nach wie vor herausfordernd und ressourcenintensiv stellt sich die Übernahme neuer Rollen und Führungsaufgaben dar. Einige Teammitglieder beklagen ein Gefühl des sozialen Drucks, wenn Rollen und Aufgaben neu verteilt werden, welche sie aber (noch) nicht übernehmen möchten oder können. Hier braucht es kontinuierlich einen achtsamen Umgang und punktuelle Unterstützung bei der Bearbeitung dieser Spannungen durch eine*n externe*n Coach.

Gut gelungen ist aus Sicht der Beteiligten der Rollenwechsel der ehemaligen Referatsleitung hin zu einem Teammitglied als “par inter pares”. Hierbei war zum einen die Bereitschaft der Führungskraft, die Führungsaufgaben abzugeben wichtig und zum anderen das Verantwortungsbewusstsein der restlichen Teammitglieder, diese Aufgaben zu übernehmen und die ehemalige Führungskraft immer weniger in ihrer alten Rolle anzusprechen.

Der Rollenwechsel der ehemaligen Führungskraft ist ein Prozess, der aktuell noch andauert: Auch heute besteht manchmal noch der Wunsch, die klassische Führungskraft zurückzubekommen, “die einfach mal eine Entscheidung trifft”. Aus systemischer Sicht ist die Legitimation von Hierarchie die Entlastung von Teams bei der Auflösung von Entscheidungsdilemmata. Hier zeigt sich, dass diese Entlastungsfunktion dem Team teilweise zu fehlen scheint. Sehr unterstützend im Prozess wirkte der schon relativ hohe Grad an Selbstorganisation im Team vor dem Wechsel in die Kollegiale Führung. Als hilfreich wurde außerdem das zusätzliche Coaching der Führungskraft zum Rollenwechsel empfunden.

Losgelöst von den Herausforderungen, welche die Einführung der Kollegialen Führung mit sich bringen kann, haben seit Beginn des Prozesses viele positive Veränderungen stattgefunden. So hat sich das Team der POE im Sommer 2021 nach einer einjährigen Experimentierphase gemeinsam dazu entschieden, auch weiterhin als selbstorganisiertes und kollegial geführtes Team zusammenzuarbeiten. Zu dieser Entscheidung hat maßgeblich auch die klare Fürsprache der Dezernatsleitung beigetragen, die das Experiment als sehr erfolgreich bewertet hat. Insgesamt wird es als positiv gesehen, dass durch die Kollegiale Führung die Möglichkeit besteht, neue Aufgaben und Tätigkeiten selbst zu wählen und mehr auszuprobieren. Darin steckt für die Mitarbeitenden ein großes Potenzial, ihre fachlichen und sozialen Kompetenzen kontinuierlich weiterzuentwickeln. Durch die unterschiedlichen Perspektiven und das Abrufen der “Schwarmintelligenz”, erscheinen viele der getroffenen Entscheidungen ausgewogener und nachhaltiger als zuvor, was sich in der Qualität der Ergebnisse widerspiegelt. Die Entscheidungen werden nun an genau der Stelle getroffen, wo fachlich die größte Expertise im Team liegt. Führungskräfte können heutzutage gar nicht mehr Expert*innen für alle Fragen sein. Das ist mittlerweile vielen aber nicht allen bewusst. Zudem können Entscheidungen schneller getroffen werden, weil sie nicht mehr von der einen Führungskraft abhängen.

Zu mehr Schnelligkeit haben die Verteilung klarer Rollen und Aufgaben unabhängig von der Position im Team nach dem Pull-Prinzip beigetragen. Entscheidungen werden gemeinsam oder durch ein fachkundiges Teammitglied allein getroffen. Sie sind somit nicht mehr allein von der Führungskraft abhängig. So ist es im Rahmen der Kollegialen Führung explizit gewünscht, dass sich alle Teammitglieder nach ihren Möglichkeiten einbringen und die unterschiedlichen Perspektiven dazu beitragen, verschiedenste Aspekte zu betrachten. Zudem können mehr Themen zeitgleich angegangen und bearbeitet werden, da das System schneller und unabhängiger geworden ist.

Das Aufgabenboard und die Delegationsmatrix bewähren sich als hilfreiche Tools, den Prozess zu unterstützen und Aufgaben und Arbeitsorganisation für alle sichtbar zu machen. Dies hat dazu beigetragen, dass zuvor geäußerte Bedenken, wie z.B. Chaos-Szenarien oder Effekte der Verantwortungsdiffusion nicht eingetreten sind, weil es gerade in der Selbstorganisation eine klare Aufteilung von Aufgaben, Rollen und somit Verantwortung gibt.

Zum Schluss bleibt die Erkenntnis, dass die neue Arbeitsweise das vorhergehende System komplett auf den Kopf gestellt hat. Dies erforderte eine hohe Risikobereitschaft und große Offenheit aller Beteiligten (inkl. der Regelhierarchie, in die das Referat weiterhin eingebunden ist), sich auf den Prozess einzulassen und auftretende Spannungen anzuerkennen, zu benennen und im Sinne des organisationalen Lernens für die Weiterentwicklung zu nutzen. Es scheint jedoch, dass die Kollegiale Führung nicht für jede Organisation(seinheit) oder jedes Individuum geeignet ist und im Vorfeld gut abgewogen werden sollte, ob diese Form der Zusammenarbeit das richtige Mittel der Wahl ist. Ein Hauptgrund könnte sein, dass es für die Kollegiale Führung Veränderungen in drei Bereichen – Haltung, Werkzeuge, Wissen – benötigt. Und wie bei allen Veränderungsprojekten gibt es auch hier Bereiche und Personen, die sich damit schwerer tun als andere. Gleichzeitig haben Lehre, Forschung und Verwaltung ihre jeweils ganz eigene Organisationsform und Arbeitskultur. Und sogar mit Blick auf die Verwaltung allein lassen sich dabei durchaus relevante Unterschiede beobachten. So arbeiten in der Personal- und Organisationsentwicklung oft Menschen mit psychologisch-soziologischem Hintergrund und einer Affinität zu Neuem und zu Trends in der Organisationsentwicklung. Qua ihres Amtes verfügen sie über eine adaptive Grundhaltung. Richtet man den Blick auf Bereiche wie Recht oder Finanzen liegt dort der Fokus eher auf Daten, Fakten, Prozessen und Strukturen. Hier stellt sich also die Frage, in welcher Weise der spezifische Kontext und die Erfahrung der POE übertragbar ist auf andere Bereiche der Hochschulverwaltung, die eine ganze Reihe normativer, juristischer u.a. Regel-/Kontrollaufgaben haben und deren Erfüllung ggf. andere Arten von Entscheidungsprozessen und Routinen benötigen. Zur Erkundung dieser Fragestellung verweisen wir auf den oben beschriebenen Ansatz der agilen Organisationsentwicklung: Handlungsbedarf ermitteln, mit agileren Ansätzen experimentieren, ihre Wirkung reflektieren und wirkungsvolle Ansätze Schritt für Schritt integrieren.

Beenden möchten wir diesen Artikel mit einem Zitat des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber, dessen Ausführungen zum menschlichen Miteinander nie an Aktualität verlieren. Zudem lassen sich aus ihnen sehr hilfreiche Maxime zur Haltungsentwicklung in der (agilen) Organisationsentwicklung ableiten. Wie zum Beispiel die folgende: “… das Bedeutsame ist nicht die Unsicherheit selbst, sondern die Antwort auf sie: die Bereitschaft, ihr mit Offenheit und Vertrauen zu begegnen und mit dem eigenen Leben zu antworten, im Gegensatz zu allen Versuchen, sich vor ihr zu schützen und sie auf handhabbare Maße zu reduzieren” (Friedman 1999, S. 99).

Literaturverzeichnis
Friedman, Maurice S. (1999): Begegnung auf dem schmalen Grat. Martin Buber – ein Leben. Münster: Agenda-Verl.
Oestereich, Bernd; Schröder, Claudia (2017): Das kollegial geführte Unternehmen. Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München: Vahlen.
Oestereich, Bernd; Schröder, Claudia (2019): Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. München: Verlag Franz Vahlen GmbH.